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«Die Angst vor dem Scheitern legt sich»


Die Europameisterschaft in Deutschland ist der internationale Schlusspunkt hinter die grosse Karriere von Andy Schmid. Der 40-jährige Spielmacher spricht über das Eröffnungsspiel vor einer Rekordkulisse und erklärt, weshalb er zuweilen wie ein 20-Jähriger spielt.

 


Kitschig? «Definitiv», sagt Andy Schmid und lacht. Sein viertes und letztes grosses Turnier findet in Deutschland statt, die Europameisterschaft 2024 hat er persönlich als Schlusspunkt für seine internationale Aktivkarriere ausgewählt. Dass die Schweiz im Eröffnungsspiel ausgerechnet auf den Gastgeber trifft, sogar vor einer Rekordkulisse im Düsseldorfer Fussballstadion, ist indes ein Drehbuch, das er selbst so nicht geschrieben hätte. «Es ist fast übertrieben speziell», findet der 40-jährige Luzerner. «Es wird überwältigend sein.» Kein Zweifel: Deutschland gegen die Schweiz wird am 10. Januar vor über 50‘000 Fans unabhängig des Ausgangs in die Geschichtsbücher eingehen, auch in jenes von Schmid. 12 Jahre lang spielte er in Deutschland, fünfmal wurde er zum besten Spieler der Bundesliga gewählt, zweimal gewann er mit den Rhein-Neckar Löwen den Meistertitel, einmal den Pokal, einmal den EHF-Cup, und er führte seinen Nachfolger Juri Knorr an höhere Aufgaben heran. Knorr zieht nun auch im Rückraum von Deutschlands Nationalteam die Fäden, und so kommt es in Düsseldorf zum Generationenduell. Zum ersten Ernstkampf zwischen dem Meister und seinem mittlerweile 23-jährigen Ex-Schützling.

 

European League zeigt: Er kann’s noch

Dass Andy Schmid in seiner Wurfhand noch über genug Magie verfügt, um auf der internationalen Bühne zu zaubern, bewies er mit dem HC Kriens-Luzern in der European League. Zwar scheiterten die Zentralschweizer in der ersten Gruppenphase, Schmid aber stürmte die Spitze der Torschützenliste und verzückte unter anderem in Hannover das Publikum, als er 14 Tore zum 30:30-Remis beitrug. «Einmal der Ball sein, wenn Andy Schmid auf dem Feld steht», schwärmte der Reporter des Streamingdienstes «Dyn», für den zuweilen auch Schmid als Co-Kommentator auftritt. Wer Schmid kennt, der weiss, dass er nur dann befreit aufspielen kann, wenn sein Kopf keine Störsignale aus dem Rest seines Körpers empfängt. Im Winter seiner Karriere, in seiner 23. Saison (!) im Erwachsenen-Handball, ist dies alles andere als selbstverständlich, zumal er nach der Rückkehr in die Schweiz über die eigenen physischen Grenzen hinausging. Teilabriss in der Achillessehne, Wadenschmerzen und Bauchmuskelprobleme bildeten die Kehrseiten der Gold- und Silbermedaille, die er mit Kriens-Luzern 2023 in Cup und Meisterschaft gewann. «Deshalb schaue ich nun so genau auf meinen Körper wie schon lange nicht mehr.»

 

Schmid legt Fokus auf Highlights

Seit ein paar Monaten arbeitet er privat mit einem Fitnesstrainer zusammen, schiebt neben den Einheiten mit dem Verein individuell ausgerichtete Extraschichten. Anfang Oktober stieg er mit rund einmonatiger Verspätung in die Schweizer Meisterschaft ein, seine Einsätze sind seither reduziert, auch zu Gunsten von Jonas Schelker, der in Kriens in seine Rolle hineinwachsen soll. Das sorgt für Kontroversen, recht machen kann er es nicht allen. «Entweder heisst es, ich spiele zu lange, weil sich andere nicht weiterentwickeln können. Oder ich werde nach Niederlagen gefragt, weshalb ich nicht gespielt habe», erzählt Schmid.

Seine aktuelle Verfassung stellt der Belastungssteuerung jedenfalls ein gutes Zeugnis aus. «Wie ein 20-Jähriger» habe Schmid gespielt, befand der Krienser Trainer Peter Kukucka in Hannover. Den Fokus auf Highlights zu richten, diese Gabe hat Schmid inzwischen sicherlich perfektioniert. Zu dieser mentalen Vorbereitung gehört auch die Akzeptanz einer möglichen Niederlage. «Ich erlebte in meiner Karriere auch Enttäuschungen, ich weiss, dass es schiefgehen kann. In den letzten Jahren hat sich bei mir die Angst vor dem Scheitern gelegt», sagt Schmid und mit Blick auf das Eröffnungsspiel hält er fest: «Wenn bei uns viel zusammenpasst, können wir Deutschland ganz eng in eine Ecke drängen. Es kann aber auch sein, dass wir überfahren werden.»

 

Unschöne Erinnerung an die EM 2020

Erinnerungen an 2020 werden wach. Auch damals, an der EM in Schweden, als die Schweiz erstmals seit 2006 wieder an einer Grossveranstaltung präsent war, eröffnete sie ihr Turnier gegen den Gastgeber. «Ein halbes Jahr wurde bei uns diskutiert, dass es perfekt sei, gleich am Anfang gegen die Schweden zu spielen. Ein Gastgeber habe zunächst doch immer Schwierigkeiten und sei nervös, hiess es», erzählt Schmid und mit einem Schmunzeln fügt er an: «Auch ich habe das geglaubt.» Was herauskam, ist bekannt. Die Schweiz geriet mit 21:34 unter die Räder. Und so verlangt Schmid von sich und der Schweiz, dass sie realistisch an die Sache herangehen: «Es gibt keinen Grund, um zu überdrehen.» In der Gruppe A mit Deutschland, Frankreich und Nordmazedonien ist die Schweiz die Aussenseiterin. «Drei Spiele am Maximum», fordert Schmid, «resultatmässig wird unsere EM am Auftritt gegen Nordmazedonien gemessen, dieses Spiel müssen wir gewinnen». Als Turnierfavoriten nennt er derweil Olympiasieger Frankreich und Weltmeister Dänemark.

 

Sorgt Schmid noch für eine Überraschung?

Und danach? Tritt Andy Schmid von der grossen Bühne ab und lässt die letzten Monate seiner Karriere bei Kriens-Luzern ausklingen, vielleicht mit einem letzten Titel als Krönung. Oder machen die starken Auftritte in der European League nochmals Lust auf mehr? Hat das Abschlusskapitel seiner fantastischen Laufbahn das Potenzial für eine Überraschung? «Ich bin ein Mensch, der nie etwas ausschliesst», bemerkte er anfangs Saison gegenüber der Luzerner Zeitung. «Sollte nach der EM Barcelona kommen und für drei Monate einen Rückraum Mitte für den Gewinn der Champions League brauchen, dann müsste ich schon zwei Nächte darüber schlafen.»

 

Wie auch immer: Am 1. Juli 2024 kommt es definitiv zum Tapetenwechsel, Schmid wird die Nachfolge von Michael Suter als Nationaltrainer antreten. Speziell: Seit mehr als einem Jahrzehnt wird über die Nachfolge von Schmid als Spielmacher der SHV-Auswahl sinniert. Einer der ersten, die genannt wurden, ist Tom Hofstetter, doch der heute 33-Jährige ist bereits vor über drei Jahren zurückgetreten. Nun kann Schmid selber über diese Personalie entscheiden. «Das ist wirklich speziell», sagt der zweifache Familienvater und lacht. Ob ihn Jonas Schelker, Manuel Zehnder oder jemand anders beerbt, wird die Zukunft zeigen.

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